Themenvortrag mit Prof. Dr. Rieger-Ladich, Universität Tübingen
Am 15.01. lud der Elternbeirat des Christophorus-Gymnasiums Altensteig zu einem Abend unter „Schule im Gespräch“ ein. Prof. Dr. Rieger-Ladich legte gleich zu Anfang die Struktur und seine Leit-These vor, ein Kampf zwischen den Klassen der Bevölkerung werde auch im Klassenzimmer ausgetragen. Entsprechend zielte der Vortrag auf die Frage ab, wie man – wenn diese These zugrundegelegt wird – eine „Demokratisierung“ der Schule erreichen könne.
Zu seiner Person berichtet Prof. Dr. Rieger-Ladich, dass noch seine Großeltern zur Unterschicht gehörten und erst sein Vater einen beruflichen Aufstieg durchlief, wobei erst er selbst eine akademische Laufbahn einschlagen konnte. Damit durchlebte er einen Aufstieg in Beruf und Bildung mit allen damit verbundenen schmerzhaften und beschämenden Erfahrungen und kann die Nöte anderer „Bildungsaufsteiger“ nachempfinden. Als Dozent erteilt er Erwartungen, den anderen „die Welt zu erklären“, eine klare Absage. Seine These hält er für streitbar und überlässt den Zuhörenden, zu prüfen, was sie davon halten.
Beschämung sei ein Indikator für den Klassenkampf im Klassenzimmer, der Begriff aus dem Kommunismus tauchte sogar auf in einem Buch, auf das sich der Referent bezog. Das Dilemma der herrschenden Klasse bestehe darin, dass formell alle Menschen gleich seien, materiell jedoch den unteren Klassen der Status verwehrt werde.
Drei Jahreszahlen
Prof. Dr. Rieger-Ladich unterstreicht seine Aussagen mit 3 Jahreszahlen und 3 Buchempfehlungen. Unter den Jahreszahlen erwähnt er:
- 1964. Georg Picht redet über „Bildungskatastrophe“ mit der Forderung, das Bildungswesen grundlegend zu reformieren, und „Begabungsreserven“, womit er Mädchen meint, durch die der Bedarf der Wirtschaft gedeckt werden solle.
- 1971. Pierre Bordieu referiert über Chancengleichheit und Klassenkampf und widerspricht der Vorstellung, über das Lehramt die Welt verbessern zu wollen, da nach seiner Auffassung die Bildungseinrichtung kein Zentrum für Neuerungen sei. Allerdings räumt der Referent einen Unterschied von Frankreich 1971 zu Baden-Württemberg 2018 ein.
- 1957. Schelsky äußert sich zu Aufstiegsambitionen und Scheiternserfahrungen, dass man erstere „systematisch enttäuschen“ müsse, was sich im Kontext zu der Aussage deutet, dass Bildungsaufsteiger gezielt ausgebremst werden sollten.
Erfahrungen von Pierre Bordieu
Ein Schwerpunkt hierbei liegt auf Pierre Bourdieu, der, deutliche Kritik am französischen Bildungssystem übt bis hin zum Vorwurf der Instrumentalisierung durch die herrschende Klasse und dem des „Verrates an der französischen Revolution“. Weitere Aussagen aus dem Vortrag seien hier verkürzt wiedergegeben:
Entscheidend für den Erfolg (Bildung) sei die kulturelle Passung (zur Bildungseinrichtung).
Viele, die scheitern, empfänden das Bildungssystem als fair, was es nicht sei.
Er habe für das Proletariat gekämpft, sich aber dabei für seine Eltern geschämt. „Ich muss mich entscheiden zwischen Elternhaus und Schule.“. Bürgerliche müssten das nie.
Bildungsaufsteiger sprächen alle von einem Bruch.
Buchempfehlungen zur These
Prof. Dr. Rieger-Ladich nennt drei Bücher, die seine These zu bestätigen scheinen, hierunter Pennacs „Schulkummer“ (2007), Reckwitz „Gesetz des Singular“ (2017) und „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon. Es geht um Polarisierung, um Scham für individuelles Scheitern, bei dem der Scheiternde sich selbst die Verantwortung für das Scheitern gebe und das Bildungssystem als fair empfinde, dieses aber nicht fair sei. Eribon beschreibt seinen Weg in doppelter Scham mit homosexuellem und proletarischem Hintergrund als Musterschüler bis hin in die höchste Elite. In neuerer Zeit scheint er sich klassenkämpferisch für Massenmigration und gegen „Homophobie“ und vermeintlichen „inhärenten Rassismus“ einsetzen zu wollen. (Spiegel online vom 30.06.2016)
Fragen von Teilnehmern und Teilnehmerinnen
Der Referent lädt ein, Fragen zu stellen, die er beantwortet. Unter Anderem wird gefragt, ob an der Hochschule Unterschiede zwischen Stadt und Land bemerkbar seien, er nennt in seiner Antwort das Stichwort Dialekt. Die Frage nach dem Bewusstsein in der Politik illustriert er anhand des Beispieles Elbphilharmonie und des Personenkreises, der von diesem Bau am meisten profitiert. Gefragt wird auch nach dem Problem, wo Elitekinder unter Leistungsdruck stehen, dies hält er jedoch für den Ausnahmefall.
Er schließt mit der Betrachtung zwischen Wirklichkeitssinn (das Nächstliegende, das ich kann) und Möglichkeitssinn (was ich könnte, aber noch nie erwogen habe, es zu tun) und äußert den Wunsch, dass Letzterer stärker gefördert werde. Im Übrigen hielt er sich an die eigene Vorgabe, keine Patentantworten liefern zu wollen.
Abschließende Betrachtungen
Prof. Dr. Rieger-Ladich bringt das Thema Versagensängste in einen politischen Zusammenhang, den viele aus dem Publikum nicht kennen und bei diesem Thema so nicht erwartet hätten. Er beleuchtet die Probleme und Erschwernisse für Bildungsaufsteiger und nimmt dazu Mängel im Bildungssystem wahr. Seine Aussagen belegt er mit Beispielen anderer Betroffener. Inwieweit Standesunterschiede oder Klassenunterschiede in einem zwingenden Zusammenhang mit Bildungsunterschieden stehen und darüber hinaus der hauptsächliche oder gar einzige Grund für Versagensängste und Schamgefühle in der Schule sind, wurde mindestens von vielen Zuhörern deutlich anders gesehen. Die erwähnten Aussagen von Schelsky (1957) erlauben auch die Deutung zu einer Warnung davor, Bildung als Mittel zur Lösung aller sozialen Fragen zu sehen.
Eine wirkliche Diskussion kam während der Veranstaltung nicht auf, da auf jede Frage eine ca. 10-minütige Antwort folgte. Gemäß ihrer Rückmeldungen waren einige Besucher enttäuscht, da sie anhand des Themas etwas Anderes erwartet hatten, als letztendlich zum Vortrag kam. Auch empfanden nicht wenige Zuhörer aufgrund der Art und Weise des Vortrags genau die Schamgefühle, die ebendieser gerade kritisieren wollte.
Unmittelbar im Anschluss an die Veranstaltung wohnte der Verfasser einem angeregten Gespräch einer Gruppe von Besuchern bei. Reaktionen reichten von „Thema verfehlt“, da bei vielen Schülern Ängste vorliegen, die nicht mit den geschilderten Standesunterschieden zu erklären sind, bis zu eingeschränkter Bejahung einiger Gesichtspunkte. So lassen sich Abgrenzungen zwischen Gruppen aus verschiedenen Bildungsschichten tatsächlich beobachten, wo diese sich, etwa im Konfirmandenunterricht, begegnen.
Wenige sehen die Ursache dafür jedoch in Standesunterschieden, eher nehmen sie einen prägender Einfluss seitens des Elternhauses wahr, der einen etwaigen Bildungsaufstieg in der Regel erschwert. Auch manche Interessensgruppen, etwa Chor oder Sportverein, grenzten sich, so eine Beteiligte, ebenfalls und unabhängig vom Bildungsniveau ab, da sich damit das Zusammengehörigkeitsgefühl stärke. Im Übrigen verneinte sie, dass am Christophorus-Gymnasium ein „Klassenkampf“ stattfinde oder soziale Standesunterschiede eine herausragende Rolle spielten. Einer vertritt, dass der Wert eines Menschen niemals an seinem Bildungs- oder sozialen Stand bemessen werden dürfe und sieht hierin einen möglichen Ansatz, um Versagensängste von Bildungsaufsteigern und anderen Betroffenen effektiver lindern zu können als über politische Maßnahmen.
Sebastian Skobowsky, 22.01.2018